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Kunstgeschichten – in der Mehrzahl

Piotr Piotrowski im Schatten von Jalta

redaktionsbüro: Antje Mayer
Piotr Piotrowski:
- Ihr Buch ist bisher nur auf Polnisch erschienen. Kein Interesse, es übersetzen zu lassen?
- Aber selbstverständlich. Damit wären wir schon mitten beim Thema angelangt. Ich sprach bei zwei namhaften amerikanischen Verlagen, der MIT Press und The University of California Press, vor. Anfänglich zeigte man sich dort interessiert, meinte jedoch schließlich, dass im amerikanischen Raum für so ein spezielles Gebiet wie zentral- und osteuropäische Kunst kein breiteres Interesse bestehe. Mehr Feedback bekam ich immerhin aus Ungarn und Deutschland, wo solche Bücher offensichtlich auf mehr Beachtung bei den Lesern stoßen. Sie haben bisher noch nicht entschieden.
- Ich dachte, angesichts der vielen Ausstellungen und Publikationen in den vergangenen Jahren würden die Kunstgeschichten der ehemaligen sozialistischen Länder langsam im Westen wahrgenommen?
- Diese Kunstgeschichten existieren im Grunde nach wie vor innerhalb der westlichen Kunstrezeption nicht, und wenn, dann nur als eine homogene Kunstgeschichte der „Ostkunst“, ohne dass die Differenzen und die extrem heterogenen Entwicklungen herausgearbeitet werden. Diese Kunstgeschichten sind nicht im Bewusstsein der Menschen im Westen verankert, da dort nur marginal darüber publiziert wurde. Im Osten, etwa in Polen oder in Ex-Jugoslawien, findet mittlerweile durchaus eine rege und – das ist mir wichtig – differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Kunstgeschichte statt. Es ist dort unterdessen auch eine ansehnliche Zahl an Publikationen erschienen. Aber aufgrund der Ignoranz der westlichen Herausgeber werden sie innerhalb einer internationalen Leserschaft nicht wahrgenommen. Das gilt übrigens ganz und gar nicht für Russland, dessen Kunst im Westen bestens rezipiert wurde und wird.
- Ihr Buchtitel„Die Avantgarden im Schatten Jaltas“ bezieht sich auf das Abkommen 1945 auf der Krim, das die Aufteilung Europas in Ost und West besiegelte. Im Westen käme wohl niemand auf die Idee, ein Buch über „Kunst in Westeuropa“ im Allgemeinen zu schreiben und sie dann auch noch auf ein politisches Ereignis wie die Konferenz von Jalta zu beziehen.
- Sie haben Recht, aber die Menschen im Osten hatten in Jalta den Schwarzen Peter zugeteilt bekommen und wurden semi-totalitären Systemen untergeordnet, während im Westen die Demokratie und Freiheit einzog. Dadurch ist die Kunstproduktion im Osten meiner Meinung nach stets unter dem politischen Aspekt zu analysieren, auch wenn dahingehend nicht immer alle einer Auffassung sind. Viele Künstler behaupten, dass die Politik ihre Arbeit nicht beeinflusst hätte. Das ist nicht wahr, denke ich, weil im kommunistischen Europa alles politisch war, auch was vordergründig nicht politisch aussah. Aber das war im Westen im Grunde nicht anders, auch wenn dort vielleicht das Politische weniger auffiel. Ich bin aber davon überzeugt, dass sich die westliche Kunst genauso "im Schatten Jaltas" befand. Man kann die Kunstgeschichte in Europa nur als Kunstgeschichten – in der Mehrzahl – lesen, deswegen eignet sich auch eine Analyse der „Ostkunst“ hervorragend, pluralistisch, also europäisch, denken zu lernen.
- Aber Sie werden doch nicht bestreiten, dass die Kunstströmungen, wie die Konzeptkunst, Informell oder Body Art, in den sozialistischen Ländern untereinander formal sehr ähnlich waren und oft zeitgleich – mit dem Westen – entstanden?
- Formal, äußerlich, waren sich teilweise die Kunstströmungen ähnlich und dennoch bedeuteten sie inhaltlich im Westen und in den jeweiligen einzelnen sozialistischen Ländern etwas gänzlich anderes. Das zeige ich anhand von Beispielen in meinem Buch. Nehmen wir etwa die Konzeptkunst: In Osteuropa stand sie aus politischen Gründen unter einem lokalen Einfluss, während sie im Westen viel internationaler orientiert war. Konzeptkunst aus dem Osten wird deswegen bis heute als provinziell abgestempelt und als eine Reproduktion westlichen Stils abgetan. Man kann sie aber nur ernsthaft analysieren, wenn man auch die historischen und politischen Hintergründe kennt und über ein spezielles Instrumentarium verfügt, eines, das man nicht eins zu eins aus der westlichen Kunstrezeption übernehmen kann. Konzeptkunst als Begriff ist in Bezug auf westliche Kunst durchaus ein homogener Begriff, im Osten nicht: Sie war etwa in Polen nie sehr politisch, während sie etwa in Ungarn, wo eine viel repressivere Kunstzensur vorherrschte, einen stark politischen Charakter aufwies.Ein Beispiel für die Heterogenität der osteuropäischen Kunstszene: 1958 gab es die wichtige „Ausstellung bildender Kunst der sozialistischen Länder“ in Moskau, bei der die Kunst aus zwölf "Bruderländern" gezeigt wurde. Die Mehrzahl präsentierte sozialistischen Realismus, aber Polen stellte nur abstrakte Kunst aus, weil es zu diesem Zeitpunkt ebendiese dort gab. Man muss ins Detail gehen, um verstehen zu können, dass bei uns nicht alles ein und dasselbe war.
- Besteht das Problem nicht auch darin, dass wir in der Kunstgeschichtsforschung in Osteuropa westliche Termini und Methoden anwenden, jedoch damit scheitern?
- Ich sehe das so. Begriffe wie „Informelle Malerei“ oder „Body art“ sind westliche Konstrukte, die man nicht auf diese Kunstgeschichten eins zu eins übertragen kann. Es stellt eine der großen zukünftigen Herausforderungen für Kunsthistoriker wie mich dar, eine eigene Sprache und angemessene Methoden zu entwickeln. Die genannten Begriffe wurden im Osten damals zwar adoptiert, aber neu definiert und interpretiert. Man war ja auch auf ganz verschiedene Art und Weise über sie informiert. Die Jugoslawen hatten im Hinblick auf die Kunsttrends im Westen den vollen Durchblick, in Rumänien oder Ungarn hingegen konnte ihn so gut wie keiner haben. Wenn man dort an Informationen herankommen wollte, lasen viele -etwa die Ungarn und Tschechen- polnische Literatur. In Polen gab es nämlich keine Zensur in der kunsthistorischen Forschung. In der Tschechoslowakei ging es in dieser Beziehung hingegen besonders streng zu.
- Warum hat die Aufarbeitung der Kunstgeschichte in den ehemaligen sozialistischen Ländern nach Fall des Eisernen Vorhangs so lange gedauert?
- Hat sie nur zum Teil. In Polen kamen in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten viele Publikationen zu diesem Thema heraus. Das erste Buch zu diesem Thema wurde bereits in den siebziger Jahren herausgebracht, wenn nicht sogar früher. In Rumänien aber erschien tatsächlich erst im Jahr 1997 das erste Buch über die Nachkriegsmoderne mit dem Titel „Experimente in der rumänischen Kunst seit 1960“. Es war die erste umfassende Studie über Kunst in Rumänien und ist seitdem Gott sei dank nicht die einzige geblieben.
Den ersten Versuch, tschechische Kunst der siebziger und achtziger Jahre zusammenzufassen, startete das Kunstmagazin „Výtvarné umění“ erst Mitte der neunziger Jahre (Nr. 3–4/1995 und 1–2/ 1996) unter dem Titel „Zákazené umění“ (Verbotene Kunst). Diese zwei Nummern waren dann die Initialzündung für eine Reihe interessanter Artikel, Bücher und Kataloge zu diesem Thema.
Bei den Recherchen zu meinem neuen Buch wurde mir in Rumänien freundlicherweise ungeheuer umfangreiches Archivmaterial überlassen, aber ich konnte damit wenig anfangen. Ich will damit sagen, dass manche Länder ihre Primärquellen endlich schneller aufarbeiten müssen, damit dann internationale Wissenschaftler auf dieser Basis weiterarbeiten können.
Diese Länder sollen das nicht nur für Forscher aus dem Westen tun, sondern vor allem auch für die Kollegen aus dem Osten, die vielleicht eher das Umfeld verstehen, weil sie selbst aus ihm kommen.
Nicht umsonst reüssiert die Kunst aus jenen Ländern auf dem internationalen Kunstmarkt, in denen diese Aufarbeitung zum Teil schon passiert ist: in Ex-Jugoslawien und in Polen. Kunsthistoriker sollen endlich ihrer Aufgabe nachkommen und die Kunst in einen Kontext stellen, damit sie wahrgenommen wird.
Buch:
Piotr Piotrowski, „Awangarda w cieniu Jałty Sztuka w Europie Środkowo-Wschodniej w latach 1945–1989“, („Die Avantgarden im Schatten von Jalta. Kunst in Zentral- und Osteuropa 1945–1989“), Dom Wydawniczy REBIS, Poznań 2005, 502 Seiten, 224 Schwarz-Weiß-Reproduktionen

Piotr Piotrowski ist Professor für Kunstgeschichte der Moderne an der Adam Mickiewicz Universität in Poznań (Polen), Leiter des Instituts für Kunstgeschichte dort und stellvertretender Chefredakteur des Jahresjournals Artium Quaestiones. Er veröffentlichte zahlreiche Essays in internationalen Publikationen, vor allem zu zentral- und osteuropäischer Kunst und forscht derzeit über das Thema „Kunst und Demokratie im post-kommunistischen Europa“.


Piotr Piotrowski, Professor and Chair
Institute of Art History
Adam Mickiewicz University
Al. Niepodleglosci 4
61 874 Poznań (POLAND)
phone & fax: +48 (0)618526664
e-mail: piotrpio@amu.edu.pl
www.staff.amu.edu.pl/~piotrpio/


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Mai 2006
Link: REPORT online - Link: Piotr Piotrowski -